Nächstenliebe

20 Mrz
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Um einige der für uns eher merkwürdig erscheinenden, chinesichen Verhaltensweisen zu verstehen, muss man sich erst mal in die Situation eines chinesischen Neugebohrenen versetzen. Denn wer hier auf die Welt kommt, der hat auf einen Schlag rund 1,5 Milliarden Konkurrenten.  Ungefähr soviele Menschen – die genaue Zahl kennt keiner –  leben in diesem Riesenland.

 

Jetzt muss man sich das also mal vorstellen: Man wird geboren, alles ist gut, die Eltern verwöhnen einem nach allen Regeln der Kunst, denn dank one-child-policy ist die Chance, dass man ein Einzelkind ist und nichts mit Geschwistern teilen muss bei etwa 99%. So sorgenfrei wächst man also die ersten Jahre auf, immer wohl behütet und mit allem versorgt was man braucht umeinmal erfolgreich zu werden. Denn wenn man das einizige Kind ist, dann ist man hier zugleich auch Hoffnung und Altersvorsorge der Eltern.

 

Und dann gehts auf einmal los: Kaum kann man halbwegs Laufen und Sprechen kommt man in den Kindergarten und später die Schule wo man auf einmal nicht mehr das Zentrum des Universums,sondern eine oder einer unter Tausenden ist und ein ganz anderer Wind weht. Hier herrschen eiserne Disziplin, scharfer Drill und vor allem unglaublicher Leistungsdruck. Zusammen mit all den anderen, verwöhnten Einzelkinder, welche enbenfalls nie das Teilen oder Rücksicht auf andere nehmen gelernt haben, drückt man von nun an von morgens bis spät abends die Schulbank um unter anderem zig-tausende von Schriftzeichen auswendig zu lernen.

 

Und dann wird einem irgendwann bewusst, welche Erwartungen die Familie im Gegenzug für all die teuren Investitionen an einem hat: Denn nach wie vor ist der Grossteil chinesischer Familien vergleichsweise arm, die Altersvorsorge schlecht und ein Kind, welches einem im Alter finanziell unterstützen kann ist die beste private Vorsorge, die man treffen kann. Sozusagen die Riesterrente der Chinesen. Nicht zuletzt deshalb werden die kleinen Chinesen auch nicht nur zur Schule geschickt, sondern abends nach Schulende und an den Wochenenden zusätzlich noch in privat bezahlte Förderkurse. Englishschulen stehen hier ganz oben auf dem Programm, denn auch hier ist das beherrschen der Weltsprache mitlerwile das Eintrittsticket für denjenigen, der später mal in einem internationalen Konzern arbeiten möchte. Und das tun die meisten. Neben Englisch stehen neben der Schule dann oft noch eine musikalische Ausbildung (vorzugsweise Klavier oder Geige), wissenschaftliche kurse, wie Chemie oder Physik oder generelle Leistungsförderungsklassen auf dem Programm. Ich habe als ich das gehört habe mal einen Kollegen gefragt, wann die Kinder bei so einem durchgetakteten Arbeitstag noch zum Spielen kommen. Da hat er mich ganz schön verdutzt angeschaut und meinte “na in den Kursen sind doch andere Kinder, da spielen die”.

 

So wächst die grosse Mehrheit der kleinen Chinesen also einerseits von den Eltern verhätschelt und andererseits von der Schule auf absolute Zielstrebigkeit und Disizplin gedrillt auf. Klares Ziel vor Augen: Ein guter Job, der es ermöglich viel Geld zu verdienen, damit man sich selbst und der Familie die so viel in einem investiert hat, ein besseres Leben abseits der Massen ermöglichen kann. Auf der Wunschliste von Eltern und Kinder ganz oben sind übrigens Regierungsjobs. Der Andrang für diese ist immens und die Auwahlkriterien sind gnadenlos hart. Dafür erwartet diejenigen, welche sie erfüllen und genommen werden eine gesicherte und weitgehend sorgenfreie Zukunft. Denn der Staat sorgt sehr gut für seine Schääfchen und Regierungsmitarbeiter gelten allgemein als Einflussreich und geniessen Spezialbehandlungen bei fast allem, inklusive Rente und Gesundheitssystem. In einem Land in dem Vätterwirtschaft und Korruption nach wie vor zum Tagesgschäft gehört und in dem ohne die richtigen Beziehungen fast nichts funktioniert sind diese Stellen natürlich entsprechend attraktiv.

 

Doch auch die internationalen Grosskonzerne sind durchaus begehrte Arbeitgeber, da die Arbeitsbedingungen verglichen mit den chinesischen Firmen hier oft besser sind, mehr gezahlt wird, bessere Rentenprogramme bestehen und mehr Urlaub gewährt wird. Und auch sie wollen natürlich nur die besten einstellen, am liebsten mit guten Englischkenntnissen, guten Schulnoten und wo möglich Auslandserfahrung.

Um diese hohen Anforderungen zu erfüllen und weil die Konkurrenz riesig ist, muss der Chinese also in allem was er tut entweder besser, schneller oder skrupelloser als andere sein. Das gilt in der Schule im Wettkampf um die besten Noten, das beste Studium und den besten Job und das lässt sich auch übertragen auf das Anstellen in einer Wartschlange, das Einsteigen in einen Metrozug und das Fahren auf einer Strasse. Denn egal was man hier tut: Man ist ganz sicher nie der einzige und tausend andere wollen dasselbe. Wer einmal zur rush-hour an der Metrostation “People Square” in Shanghai umgestiegen ist, der weiss ganz genau wovon ich rede. Hier ist nicht nur viel los, hier herrscht Massenauflauf wie bei der Loveparade. Ein Festzelt auf dem Oktoberfest am letzten schönen Samstag vor dem Ende ist dagegen eine Wellnessoase. Abertausende von Menschen drängen sich durch die Eingänge, über die Treppen, durch die Security Checks und in die Züge. Und was einem hier so deutlich vor Augen geführt wird ist die Situation bei einfach allem was man tut. Wer bremst verliert, wer zu spät kommt geht leer aus, wer nicht gut genug ist bekommt keinen der begehrten, gutbezahlten Jobs und wer nicht reich genug ist, der kann sich eine gute Bildung für seine Kinder oder  Behandlung eventuell lebensrettende Behandlung im Krankenhaus schlichtweg nicht leisten. So einfach und hart sind die Spielregeln.

 

Und wer das weiss, der versteht vermutlich auch, warum Nächstenliebe hier eine ganz andere Bedeutung hat und auch haben muss. Der Einzelne zählt in dieser Gesellschaft nicht viel –  dazu gibt es einfach zu viele Menschen, als dass man sich um jeden kümmern könnte. Die Chinesen selbst trennen ihre Mitmenschen deshalb messerscharf in zwei Kategorien: Die eine sind diejenigen, die ihnen nahestehen. Allen voran der Partner und die Familienmitglieder. Sie sind fast heilig und für sie wird grundsätzlich alles getan. Auch zum inneren Kreis gehören aber Freunde, Bekannte und Arbeitskollegen. Sie alle behandelt man äusserst gut und rücksichtsvoll, man macht ihnen kleine Geschenke und hilft sich gegenseitig wo immer es geht und pflegt ein sehr starkes “Wir-Gefühl”. All die anderen gehören nicht zum inneren Kreis und sind dadurch automatisch erstmal anoyme Wesen und gelten grundsätzlich als Konkurrenten. Sie werden in der Warteschlange abgedrängt, in der Ubahn umgeschupst, im Verkehr geschnitten und ausgebremst. Das ist noch nicht mal unbedingt absichtlich böse gemeint, es gibt hier einfach immer und überall so unglaublich viele Menschen und so werden diese eher als Teil der Umgebung wahrgenommen und weniger als andere Lebenswesen mit denen man mitfühlt.

 

Wer eine Weile in China lebt, der gewöhnt sich an diese Spielregeln und manch Westler eignet sich nach einiger Zeit ähnliche Verhaltensweisen selbst an. Während man als Mitteleuropäer ja eigentlich dazu erzogen wurde, anderen die Türe aufzuhalten, den Vortritt zu lassen oder Menschen auf der Strasse freundlich zu grüssen und so weiter merkt man schnell, dass dies hier nicht nur nicht erwidert wird, sondern eher mit verständnislosen Blicken quitiert. Wer also zu was kommen will und nicht den ganzen Tag an einer Türe stehen weil er andere vorlässt, der muss selbst anfangen sich vorzudrängeln, andere zu schneiden und sich nicht um fremde Menschen zu kümmern. Das ist leider einfach so.

 

Und dennoch gibt es auch nach Jahren hier noch Situationen die einem schockieren, in dem man sich fragt ob dieses Land nicht doch von einer Gesellschaft asozialer Einzelkinder beherrscht wird. So bin ich zum Beispiel vor kurzem in einem Taxi an einem Verkehrsunfall vorbeigekommen. Davon gibt es in einer Stadt wie Shanghai leider sehr viele. Offensichtlich hat ein Auto einen Elektroscooter gerammt und die Fahrerin lag reglos am Boden. Ich gehe nachdem ich den völlig demolierten Scooter gesehen habe davon aus, dass sie tot war. Ich war natürlich schockiert über den Anblick, aber noch viel schockierter war ich, als der Taxifahrer auf die Unfallstelle zeigte und laut lachte! Solche Reaktionen nach dem Motto “Schau mal, da wurde einer überfahren, gut so, ein Konkurrent weniger” sind vielleicht auch hier eine extreme Ausnahme und dennoch sind sie in ihrer Wurzel leider normal. Wer hier einen Unfall hat, der sollte nicht darauf zählen, dass einem geholfen wird. Die Leute gehen üblicherweise einfach weiter. Auch Hilfe rufen werden die meisten nicht, aus Angst davor sich dadurch Schuldig zu bekennen oder am Ende auf den Kosten für den Krankenwagen, welchen sie gerufen haben sitzen zu bleiben.

 

Ich habe hier selbst viele schlimme Unfälle auf der Autobahn geshen, die ich jede Woche zweimal gefahren bin und nicht selten lagen schwer verletzte Leute noch in Ihrem Fahrzeug oder auf der Strasse und kein Mensch hat geholfen oder auch nur angehalten. Stattedessen sind die Autos einfach um das Opfer herum und weitergefahren.

 

Vor kurzem war hier eine Geschichte in der Presse ganz gross: Ein 3-jähriges Mädchen wurde in einer westlichen Provinz von einem Lastwagen erfasst und schwer verletzt. Eine Überwachungskamera filmte die Szene und zeigte dass der Fahrer des Lastwagens den Unfall ganz offfensichtlich bemerkte, kurz anhielt und überlegte und dann weiterfuhr und das kleine Kind dabei abermals überrollte. Darufhin passierten 12  Leute das schwer blutende und schreiende Mädchen und kein einziger hat geholfen. Eine Strassenreinigerin nach gut 20 Minuten war die einzige die half. Das Kind starb später im Krankenhaus.

 

Diese Geschichte wurde von jedem Fernsehsender ausgestrahlt und über das Internet millionenfach verbreitet. Es folgte eine wilde Debatte um die Moral der hiesigen Gesellschaft und darüber ob man sich zu einem Volk voller egoistischer Einzelkinder entwickelt hat.  Kurz darauf ereignete sich ein ähnlicher Unfall, wieder mit einem Kind. Dieses Mal wurde ihm sofort geholfen und es überlebte. Es scheint sich also etwas zu ändern an der Einstellung der Menschen. Und das ist gut so.

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