Jahresrückblick

4 Aug
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„Ich hätte mich alles hier irgendwie anders vorgestellt; rückständiger und nicht so modern und sauber und irgendwie viel chinesischer“ – das ist der meistgehörte Satz wenn man unsere Besucher zum Ende ihres Aufenthalts hier nach Ihren Eindrücken fragt. Fast alle von ihnen kamen mit ganz anderen Erwartungen nach Shanghai und mit einem Bild im Kopf, wie es von den Medien in Europa noch immer oft widergegeben wird, allerdings die Realität schon lange nicht mehr trifft.

Shanghai ist eine hochmoderne Metropole, welche alles zu bieten hat, was es in anderen Grossstädten dieser Welt gibt. Feldarbeiter mit Reishüten auf dem Kopf und einen Pflug ziehenden Wasserbüffel findet man hier entgegen den Erwartungen einiger Besucher schon lange nicht mehr. Dafür aber eine glitzernde und quirlige, niemals ruhende Riesenstadt, in welcher man den ursprünglichen, typisch chinesischen Lebensstil, Häuser mit geschwungenen Dächern und Chinesen in traditionellen Garderoben nur noch in versteckten Ecken finden kann.

Gut ein Jahr ist es nun bereits her, seit ich im Juni 2010 zum Arbeiten und Leben nach Shanghai gekommen bin. Die Reihenfolge; erst Arbeiten, dann Leben ist bewusst so gewählt und entspricht demn Empfinde vieler sogenannter Expats, also von ihrem Arbeitgeber im Westen hierher entsandten Arbeitnehmer. Shanghai ist primär eine Stadt fürs Business und nur sekundär eine zum Leben. Sie ist ein Epizentrum der Weltwirtschaft und ein Sammelbecken für Unternehmer in Goldgräberstimmung aus aller Welt. Seit Jahren zweistellige Wachstumsraten, vergleichweise billige Arbeitskräfte und ein unerschöpflich wirkender Binnenmarkt mit über einer Milliarde potentiellen Kunden zieht sie alle in diese Mollochstadt – die meisten von Ihnen auf der Suche nach Karriere, Erfolg, Wachstum und satten Gewinnen. Kaum einer auf der Suche nach einem guten, und ausgeglichenem Leben. Und für viele geht die Rechnung auf, denn während Shanghai oder Peking bereits weiter entwickelt ist als manch westliche Stadt bietet China insgesamt nach wie vor enormes Potential – und zwar für alles.

1,4 Milliarden Chinesen sind hungrig nach allem: Nach Wohnraum, nach einem Handy, einem Auto, nach Markenartikeln, Urlaub, gesundem Essen, Luxus und vor allem nach allem was westlich und damit modern und erstrebenswert erscheint. Noch sind erst mikroskopische Flächen dieses Megalandes auf westlichem Niveau angekommen, während riesige Landstriche vor allem in West- und Südchina erst auf dem Sprung ins 20ste Jahrhundert sind.

Ein wahnsinniges Potential also und während in Europa und den USA ganze Staaten gegen den Bankrott ankämpfen, wollen Firmen aus aller Welt hier ein Stück vom Kuchen abhaben und lassen sich oft mit ihren westlichen Mitarbeitern hier nieder. Und diese Mitarbeiter kommen offensichtlich sehr gerne: Erst heute habe ich während dem Frühstück in der „Shanghai Daily“ gelesen, dass bereits über 80.000 Ausländer in Shanghai wohnen und Arbeiten. Viele Davon aus Europa und alleine über 30.000 aus Deutschland. Und täglich wird die Familie der Expats noch grösser. China und Shanghai sind bei den Aswanderungswilligen sogar schon so beliebt, dass viele Firmen keine europäischen und damit gut bezahlten Entsendungsverträge mehr anbieten, sondern lokale Verträge mit entsprechenden Konditionen – und damit noch genug willige Westler finden, welche bereits sind diese anzunehmen.

Fürs Geschäft und für die Karriere ist China also zweifelsohne eine interessante Option, und auch wenn die Zusammenarbeit mit den Chinesen aufgrund der doch oftmals tieferreichenden kulturellen Differenzen zeitweise sehr anstrengend und nervenaufreibend ist und die Arbeitszeiten extrem sind, dann lernt man hier viel wertvolles über eine Gesellschaft und ihr Geschäftsverhalten, welche in den nächsten Jahrzehnten die globale Wirtschaft maßgeblich mitbestimmen wird.

Doch wie sieht es mit dem Privatleben aus? Ist China oder besser gesagt Shanghai (das eine hat mit dem anderen nicht unbedingt viel zu tun) auch privat erfüllend? Eine wertvolle Erfahrung, welche man unbedingt gemacht haben muss? Das lässt sich vermutlich gar nicht pauschal sagen und wird von jedem anders empfunden. Doch ich möchte mal behaupten, für die Mehrheit der Ausländer hier ist es eine spannende, wertvolle Erfahrung, die keiner der hier wohnenden missen möchte. Shanghai ist irgendwie eine Art riesiges Feriencamp mit Teilnehmern aller Colleur und aus aller Welt. Aufgrund der mangelndem Freizeitangebote bildete sich eine riesige Partygemeinde, welche den Eventkalender auswendig runterrasseln kann: Montags Free Flow of Beer im Zapatas, Dienstag Ladies Night im „Mint“, Mittwoch Free Flow of Champain im „Sugars“, Donnerstag Pflichtbesuch beim „Apartment“  und ab Freitag rotiert der ganze Mob zwischen „Gaga“, „One“, „Paramount“, „M2“ und den anderen, zahllosen in-clubs  Shanghais.

Dabei ist die Aussage, dass es Shanghai an Freizeitangeboten mangelt so eigentlich gar nicht richtig. Denn wie bereits gesagt: Hier gibt es alles (von Natur, was in einer 25 Millionen Metropole evtl. nicht weiter verwundert, mal abgesehen): Von (künstlichen) Stränden, über riesige Naturparks wie Chongming Island, bis zu Kletterparks, zahlreiche Spa s, Tennis- und Fußballplätze, Moutainbike- und Segelclubs, einer prächtigen Flusspromenade bis hin zu den zahlreichen, chicken Roof-Top Bars und üppigen Brunch-Buffets. Dazu jeden Tag Events, Theater, Oper, Kunstausstellungen und auch Sportveranstaltungen. Doch, und das wirkt erst mal erstaunlich, die meisten, die hier Wohnen machen nur selten Gebrauch von diesem Überangebot an Möglichkeiten – und auch ich selbst gehöre zu dieser Gruppe.

Der Grund dafür liegt vermutlich darin, dass einen diese Stadt auf Dauer einfach anstrengt und unglaublich müde macht. Sobald man seinen Fuß vor die Apartmenttüre setzt ist man zwangsweise von Menschenmassen umgeben. Sei es in der U-Bahn auf dem Weg ins Büro, im Supermarkt, auf der Straße oder im Restaurant und der Bar: Man ist von morgens bis abends von abertausenden Menschen umgeben und das in einer Art von Nähe, Lautstärke und Hektik, welche man als Westler auf Dauer weder gewohnt ist, noch ohne weiteres erträgt. Ohne in den Flieger zu steigen und wegzufliegen ist es kaum möglich, für ein paar Stunden einen ruhigen Platz im Freien zu finden um zum Beispiel in der Wiese zu liegen und ein Buch zu lesen – ohne Verkehrslärm und wuselnde, spuckende, schmatzende, laute und elektrofahrradfahrende, hupende Menschen. Das ist anstrengend und über die Zeit führt alles zusammen dazu, dass sich die Westler wann immer möglich zurückziehen, zu Hause bleiben, nicht vor die Türe wollen, faul werden, sich das Essen von Sherpas nach Hause auf die Couch  liefern lassen und dazu raubkopierte DVDs schauen.

Arbeiten und Couchdinner mit DVD erfüllen auf Dauer natürlich nur bedingt und so suchen viele Ausgleich im Gym (da Outdoorsportmöglichkeiten sehr beschränkt sind) und in (Westler-) Bars, oft gepaart mit Freeflow-of-Alcohol oder open Bar Angeboten.  Diese Lebensweise als Kombipaket aus stressigem Job, langen Arbeitstagen, schlechter Luft,ständiger Lärmkullisse, übel riechendem Hahnenwasser und Essen von dem man weiß, dass bei der Tiermast mit Hormonen und Medikamenten nicht sparsam umgegangen wird, wirken sich alles in allem und auf Dauer sicherlich nicht gerade lebensverlängernd aus.

Vermutlich lässt sich der Aufenthalt hier also am ehesten als Hassliebe beschreiben. Ein Wechselbad aus Begeisterung am unglaublichen Aufschwung und der Entwicklung hierzulange, Teil zu sein an diesem unglaublich rasanten Wandel, weit weg zu sein von Sparpaketen, Euroschwäche, Griechenlandkrise und US-Schuldenskandal. Weit weg zu Wohnen von all dem in einem Land auf der Überholspur, welches jeden Tag wieder durch Superlativen in der internationalen Presse von sich reden macht. Das alles auf der einen Seite und auf der anderen die auf Dauer doch sehr anstrengenden Chinesen, die Tatsache, dass man hier auch nach einem Jahr noch in einer Art westlichen Parallelwelt  lebt, die Kultur zwar in vielen Bereichen viel besser versteht und auch so manches entdeckt, wovon wir im Westen noch lernen können, die aber doch nicht die eigene ist und so fremd, dass sie es auch nie sein wird. Die fehlende Natur und Lebensqualität gepaart mit den exzessiven Nächten versetzen einem in einen chronischen Ermüdungszustand und das Verlangen nach Schweizer Bergwiesen, Brunnen mit trinkbarem Quellwasser und einem Glas ungepantschter Milch wächst Tag für Tag schneller.

Auf die positive Seite wiederrum gehören aber definitiv auch die vielen unglaublich interessanten und netten Menschen, welche man hier im Expatsammelbecken täglich neu kennenlernt. Sie kommen aus aller Welt, erleben dieselben Abenteuer mit der Haushälterin, dem Fahrer, den Taxifahrern, den Handwerkern, den nervenden Fake-Marktverkäufern und den chinesischen Mitmenschen und viele von Ihnen wurden zu guten Freunden, welche die Zeit hier unglaublich unterhaltsam und lebenswert machen.

Alles in allem ist es kaum möglich zu einem Fazit über das Leben hier zu kommen. Der Aufenthalt hier ist eine unglaublich wertvolle Erfahrung, eine Art Abenteuer im Rahmen dessen ich bereits viel über die Kultur, die Sprache, die Menschen und das Geschäftsleben gelernt habe und was in Zukunft sicher hilfreich sein wird.

Auf der anderen Seite erschöpft einem dieses niemals ruhende, quirlige Land auf Dauer – wobei ich mir sicher bin dass mir Zürich oder Stuttgart nach spätestens einem Monat mittlerweile zu langweilig würden.

Wir werden sehen, wie und wie lange das Abenteuer Shanghai weitergeht. Ich werd euch auf dem laufenden halten.

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